säen – pflegen – ernten
Ein kleiner Geistesblitz wurde mir am frühen Pfingstmontagmorgen auf meiner Nordic-Walkingtour geschenkt. Nach der Überquerung einer Brücke und vor dem Eintritt in den Wald entdeckte ich auf dem feuchten Waldboden dieses Bild. Man könnte auch sagen: es sprang mich an. Irgendjemand hat es wahrscheinlich verloren oder unachtsam weggeworfen. Und sofort wurde mir klar: es ist das Bild für die Lebenssituation, in der ich mich im Moment befinde: Eine Woche nach meinem Abschied vom aktiven Dienst bin ich unvermittelt ins Zeitalter der Ernte eingetreten. Jetzt gilt es, die Früchte einzufahren, das Erreichte zu genießen. Ich muss mir und anderen jetzt nichts mehr beweisen. So wie es geworden ist, ist es. Und noch ein Zweites wurde mir blitzschnell klar: Ernten ist das eine, Säen und Pflegen das andere. Aber alles hängt miteinander untrennbar zusammen. Auch in der Erntezeit sollte man nicht aufhören, neue Gedanken zu säen und neue Erkenntnisse zu pflegen. Nur so kommt es zur Weiterentwicklung des Geistes. Ich gebe zu, dass es auch mir nicht leichtfällt, nach der magischen Grenze von 65 Jahren nun definitiv in die letzte Wegstrecke einzubiegen. „Ernten“ ist das Zauberwort. Das heißt nicht: sich auf den Lorbeeren ausruhen, sondern nun gilt es, auf dem Gewordenen aufzubauen und das sich bietende Neuland mit den neuen Freiheiten zu gestalten, neue Seelenlandschaften zu entdecken, neue Zusammenhänge zu erschließen. Es hilft mir dabei auch der Gedanke, dass unsere christliche Existenz in der jüdischen Kultur wurzelt. Unser christliches Pfingstfest basiert etwa auf dem uralten jüdischen Erntedankfest Schawuot. Ernte und Geist hängen und gehören zusammen. Beides hat eine offene Struktur. An diesen vielfach unbekannten Zusammenhängen weiterzuarbeiten, das sind Zukunftsaufgaben, denen ich mich gerne stelle und von denen ich mich gerne herausfordern lasse. Die Publizistin Sibylle Berg sagte in einem Interview: „Es ist gut, dass es so viel gibt, was mir unbekannt ist. Dann wird der Rest meines Lebens nicht langweilig.“ Dem möchte ich mich gerne anschließen und mit dem Zitat einer neuentdeckten Geistesgröße, Michel de Montaigne (Schlusssatz aus den „Essais“ von 1588), abschließen: „Nichts ist so schön und ehrenhaft, als wahrhaft und wie es sich gehört ein Mensch zu sein, und keine Kunst so schwer, wie dieses Leben recht und natürlich zu leben. Wir trachten nach einem anderen Los, weil wir das unsre nicht zu nützen wissen, und wollen über uns hinaus, weil wir nicht begreifen, was in uns ist.“
Comments